Ab den 1950er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigte sich der Kinderarzt John Bowlby mit der Frage, wie Bindung zwischen Mutter und Kind entsteht und welchen Einfluss diese Art der Bindung auf spätere Beziehungen und die Beziehungsfähigkeit des Kindes hat. Die von ihm begründete Bindungstheorie beschreibt das Bedürfnis des Menschen, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehung zu Mitmenschen aufzubauen.

Bindungsarten
Verfeinert wurden die Erkenntnisse Bowlbys durch Mary Ainsworth Forschung mit Hilfe des sogenannten Fremde-Situations-Test, bei welchem die Bindungsqualität zwischen Mutter und Kind genauer beobachtet und studiert wurde. Aus den Ergebnissen der Studie zum Fremde-Situation-Test konnten insgesamt vier Bindungsarten definiert werden. Die Studie untersuchte in einer Abfolge von Situationen geprägt von Trennung und Wiedervereinigung von Mutter und Kind, wie die Kinder auf diese verschiedenen Phasen reagierten.
Feinfühligkeit
Mary Ainsworth entwickelte auch das Konzept der Feinfühligkeit der Bindungsperson gegenüber den Signalen des Kindes. Dieses meint, dass beispielsweise die Mutter die kindlichen Verhaltensweisen wahrnimmt, richtig deuten kann und angemessen und prompt auf die Bedürfnisse des Babys reagiert. Das so versorgte Kind entwickelt dadurch das Gefühl, dass seine Bindungswünsche und -bedürfnisse richtig und wichtig sind. Ebenfalls weiss es, dass die Mutter ihm bei der Selbstregulation seiner Gefühle unterstützend zur Seite steht, da kleine Kinder es alleine nicht schaffen, sich beispielsweise wieder zur beruhigen, wenn sie aufgeregt oder ängstlich sind.
Werden Bedürfnisse des Babys mehrheitlich in diesen frühen Phase ignoriert, nicht adäquat beantwortet oder missgedeutet, führt dies beim Baby zu sehr viel innerem Stress und Frust. In der weiteren Folge erlebt das Baby seine Versuche, eine Bindung herzustellen, als wirkungslos und entwickelt ein unsicheres Bindungsmuster, welches auch die Grundlage aller weiteren späteren Beziehungsmuster darstellen wird.
Die moderne Forschung zeigt ganz deutlich, dass das Bindungsmuster schon während der Schwangerschaft in der Interaktion zwischen Mutter und Kind entsteht. Dieses prägt die pränatale Hirnentwicklung, die Persönlichkeit und die Selbststeuerung des Kindes schon während der Schwangerschaft massgeblich. (Weitere, spannende Informationen finden sich bei Dr. med. Cyril Lüdin auf seiner Webseite)
Fremde-Sitations-Test
Der Fremde-Situation-Test wurde von Mary Ainsworth (1978) wie folgt durchgeführt und das Verhalten des Kleinkindes in Bezug auf die Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten beobachtet:
- Mutter und Kind betreten das Spielzimmer.
- Sie akklimatisieren sich, und das Kind kann den ungewohnten Raum erkunden.
- Eine fremde Person tritt ein und nimmt mit der Mutter und dem Kind Kontakt auf.
- Die Mutter geht, und die Fremde bleibt mit dem Kind zurück.
- Die Mutter kehrt zurück, und die Fremde geht.
- Die Mutter verlässt wieder den Raum, aber das Kind bleibt allein zurück.
- Die fremde Person kommt hinzu.
- Die Mutter erscheint, und die Fremde geht.
Folgende Definition konnte Buchheim (2005) noch konkretisieren: „Die Qualität einer Bindung ist das Vertrauen in die Erreichbarkeit und Zuwendung der Bindungsperson, wenn sie zur Linderung von Leid gebraucht wird, und das begründete Vertrauen in die Wirksamkeit dieser Zuwendung zur eigenen Beruhigung.“
Die sichere Bindung
Das sicher gebundene Kind hat positive und vertrauensvolle Erfahrungen mit der Mutter sammeln können und erkundet das Zimmer in ihrer Anwesenheit ungestört. Die Mutter gibt dem Kind das verlässliche Gefühl, ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Bei der Trennung von der Mutter signalisiert das Kind dies deutlich mit Weinen, Rufen und Suchen. Die Trennung löst einen grossen Stress aus und das Kind lässt sich nicht von einer fremden Person als Ersatz beruhigen. Bei der Rückkehr der Mutter zeigt das Kind Freude und sucht sofort die körperliche Nähe der Mutter. Die Mutter kann das Kind schnell wieder beruhigen und das Kind kann bald wieder das Zimmer erkunden.
Im Erwachsenenalter zeigen solche Kinder einen sicheren-autonomen Bindungsstil in Beziehungen.
Die unsicher-ängstliche Bindung
Das unsicher-ängstliche Kind ist sehr stark auf die Mutter fixiert. Das Bindungsverhalten des Kindes ist ständig aktiviert und behindert das Kind bei der Erkundung des Raumes, auch wenn die Mutter noch anwesend ist. Das Kind hat kein verlässliches Verhalten der Mutter erfahren und erlebt diese als nicht berechenbar. Das ambivalente Verhalten der Mutter auf das Kind zeigt sich auch in den Reaktionen des Kindes, nachdem die Mutter wieder in den Raum zurückgekommen ist. Das Kind ist wütend und ärgerlich und lässt sich nicht von der Mutter trösten. Gleichzeitig aber klammert es sich an die Mutter, um Nähe und Kontakt herzustellen.
Im Erwachsenenalter wird dieser Bindungsstil mit bindungsverstrickt beschrieben, da diese Menschen oft in früheren Beziehungen gefangen scheinen.
Die unsicher-vermeidende Bindung
Das unsicher-vermeidende Kind zeigt bei Abwesenheit der Mutter keinerlei Anzeichen der Beunruhigung oder des Vermissens. Es erkundet den Raum scheinbar unberührt weiter, zeigt nur wenig Bindungsverhalten und akzeptiert die fremde Person als Ersatz. Innerlich ist das Kind sehr aufgewühlt. Spätere Untersuchungen konnten belegen, dass die Deaktivierung und Unterdrückung des Bindungsverhaltens mit einer hohen emotionalen Belastung einhergeht. Bei Rückkehr der Mutter wird diese ignoriert und Körperkontakt abgelehnt. Das unsicher-vermeidend gebundene Kind hat die Mutter als zurückweisend verinnerlicht. Um diese Zurückweisung nicht permanent erfahren zu müssen, wird der Kontakt vermieden und möglichst keine Verunsicherung gezeigt. Die Mutter zeichnet sich durch einen Mangel an Gefühlsäußerung, durch Ablehnung und Aversion gegen Körperkontakt sowie häufige Zeichen von Ärger aus. Das Kind kann kein Vertrauen auf Unterstützung entwickeln, sondern erwartet Zurückweisung. Infolge dessen unterdrückt das Kind seine Annäherungsneigung, um zumindest in einer tolerierbaren Nähe zur Mutter zu bleiben. Negative Gefühle werden unterdrückt.
Als Erwachsene äußert sich dieser Bindungsstil in einer hohen Distanz zu Bindungsthemen. Beziehungen werden idealisiert und Widersprüche schwer erkannt.
Die unsicher-desorganisierte Bindung
Das unsicher-desorganisierte gebundene Kind zeigt ein emotional wiedersprüchliches und unbeständiges Bindungsverhalten. Dabei zeigen sich vor allem motorische Sequenzen, bei welchem die Kinder in ihren Bewegungsabläufen plötzlich innehalten und erstarren. Bei der Rückkehr der Mutter zeigt sich kein bestimmtes Verhalten. Jedoch zeigen diese Kinder ebenso erhöhte Stresswerte wie die unsicher-vermeind gebundenen Kinder. Das unsicher-desorganisierte Bindungsmuster wird als ein „Steckenbleiben zwischen zwei Verhaltensmustern“ beschrieben: der Wunsch nach Nähe zur Mutter wie auch die Abwendung von ihr. Die emotionale Kommunikation ist gestört, da die Mutter gleichzeitig Auslöser der Angst ist wie auch diejenige Personen, bei der man bei Angst Zuflucht suchen möchte. Man muss an dieser Stelle davon ausgehen, dass die Mutter selbst traumatisiert wurde und dies nun an das Kind weitergibt, sofern die Traumatisierungen nicht verarbeitet werden konnten. Kinder, die misshandelt wurden, zeigen ebenfalls dieses Bindungsmuster. Es besteht ein enger Zusammenhang mit Missbrauch, psychischen Störungen und Suchtverhalten.
Beim Erwachsenen zeigt sich eine gedankliche Verwirrung oder Widersprüchlichkeit bei bestimmten Themen wie Tod oder Trennung, während bei anderen Themen sich Verhaltensweisen aus den anderen beiden unsicheren Bindungsmustern zeigen.
Was heisst das für mich?
Durch diese verinnerlichten frühen, schon in der Schwangerschaft gemachten Bindungserfahrungen bildet sich im Kind ein sicheres oder unsicheres Bindungsmuster heraus. Diese inneren Erwartungen aufgrund der gemachten Erfahrungen regulieren das Verhalten des Kindes zur Mutter und weiteren Bindungspersonen und strukturieren später das Verhalten und Erleben in allen emotional relevanten Beziehungen, einschließlich der zu sich selbst. Sie wirken im Laufe der Entwicklung auch in Abwesenheit der Mutter und den weiteren Bindungspersonen und legen fest, inwieweit jemand in Beziehungen Nähe und Sicherheit erwartet und inwieweit er sich selbst der Zuwendung, der Liebe und Aufmerksamkeit wert fühlt, also Nähe zulassen kann.
Frage dich
Kennst du dein eigenes Bindungsmuster? Wie war die Qualität der Bindung zwischen dir und deiner Mama? Wie verlief deine Schwangerschaft im Bauch deiner Mutter?