Wie gut wir in unserem Leben erlernt haben uns selbst zu regulieren, zeigt sich, wenn wir in unserem Leben starkem Stress ausgesetzt sind.
Selbstregulation und Stress
Unsere Selbstregulation entstand ab dem Zeitpunkt der Zeugung, in der Schwangerschaft und dann anschliessend nach der Geburt im Kontakt mit unserer Mutter. Ihr Lebensstil, ihre Vorerfahrungen, ihre psychischen Belastungen, ihr Lebensumfeld und ihre Beziehungen prägten unser Mass an Stress dem wir ausgesetzt waren und unsere Bewältigungsstrategien damit. Vor allem hohe Cortisollevel während der Schwangerschaft, verursacht durch intrauterine traumatische Erlebnisse, sind ein sogenannter Risikofaktor für spätere Krankheiten. Cortisol wird im Körper ausgeschüttet, wenn der Körper auf Stress reagiert.
Die übliche Aktivierung auf grossen Stress kann sich entweder im Fluchimpuls oder durch Angriff zeigen. Dieser Zustand ist eigentlich nicht für lange Dauer gedacht, sondern sollte nach einer gewissen Zeit wieder nach unten geregelt werden können. Zudem kann bei zu langer Aktivierung unser Herz schaden nehmen und versagen. Daher schaltet unser Organismus irgendwann auf einen anderen Mechanismus um, in die sogenannte „Schockstarre“, ein Zustand extrem geringer Aktivität. Dies ist eine Traumanotfallreaktion, wenn der Stress zur Lebensbedrohung wird.
Im überaktivierten Zustand auf Stress können wir fliehen oder angreifen bzw. uns verteidigen. Wir sind also nicht vollkommen hilflos und es steht uns für kurze Zeit sehr viel Energie zur Verfügung, wobei dadurch andere Abläufe im Körper wie beispielsweise die Regeneration hinten angestellt werden. Jedoch kostet der überaktivierte Zustand sehr viel Kraft.
Im unteraktivierten Zustand sind wir vollkommen hilflos, Körper und Psyche geben auf und kollabieren. Das heisst, sie erschlaffen und stellen beispielsweise ihre Funktion wie Hören, Sehen, Denken, Erinnern und Sprechen ein. Wir ergeben uns in unser Schicksal. Der Körper versucht durch diese Reaktion die verbliebene Energie für die lebenswichtigsten Funktionen einzusetzen. In dieser Situation geht es um Leben und Tod und alles ist darauf konzentriert, die Bedrohung zu überleben. Diese Zustand wird als „freeze“ und „fragment“ bezeichnet. „fragment“ meint dabei die Abspaltung des Erlebnisses aus der bewussten Wahrnehmung, um aus der unerträglichen Realität zu entfliehen und zu dissoziieren.
Frühe Prägung der Fähigkeit zur Selbstregulation
In diesem Zusammenhang kommt nun der erlernte Umgang mit Stress aus der frühen Kindheit ins Spiel. Ob und wie wir gelernt haben, mit Stress gut umgehen zu könne, oder ob wir im Mutterleib unserer Mama schon sehr viel Stress, Gewalt oder Traumatisierungen ausgesetzt waren, reguliert unsere spätere Fähigkeit wie wir mit unvorhergesehenen und stressigen Lebensumständen umgehen können. Auch die Frage, ob wir eine sichere Bindung erlebt haben oder ob unser Bindungsmuster von sehr vielen Unsicherheiten geprägt war, trägt dazu bei, ob wir eine gute oder eine kaum ausgeprägte Selbstregulationsfähigkeit besitzen. Kleine Babys brauchen zur Regelung ihrer Emotionen, Gefühle und Befindlichkeiten ihre Mutter, die ihnen dabei hilft, ihr Nervensystem wieder zu beruhigen, wenn dies durch Stress, Angst oder anderen Gefühlen in einen hohen Erregungszustand versetzt wurde. Die Mutter, die ihrem Kind eine sichere Bindung vermitteln konnte, kann ihren Nachwuchs durch eine einfühlsame Bedürfnisbefriedigung auch wieder leicht beruhigen helfen. Eine selbst traumatisierte und gestresste Mutter besitzt diese Fähigkeit selbst möglichweise nicht und kann ihrem eigenen Kind auch bei der Selbstregulation des Nervensystems nicht gut unterstützen.
Toleranzfenster
Um die eigene Selbstregulationsfähigkeit selbst besser verstehen zu lernen, kann die Theorie des „Toleranzfensters“ („window of tolerance“) herangezogen werden.
Das Toleranzfenster lässt sich sehr gut anhand der folgenden Abbildung erläutern.

Im mittleren Bereich ist das Toleranzfenster eines Menschen abgebildet. Innerhalb der beiden gestrichelten Linien „schwingt“ der Mensch in seinem Alltagszustand, wo die Dinge sich gut, normal und harmonisch anfühlen. Er oder sie kann den Alltag gut bewältigen und ist ausgeglichen, wenn das eigene Toleranzfenster nicht über- oder unterschritten wird. Die Höhe des Toleranzfensters könnte man als die individuelle Schwelle der eigenen Stresstoleranz bezeichnen. Es ist wichtig zu wissen, dass dieses Fenster genauso individuell ist, wie Menschen individuell sind.
Übererregung
Kommt der Mensch nun im Verlauf des Tages mit einer Situation in Kontakt, die ihn in seinem Toleranzfenster an die obere Grenze führt, kommt der gesamte Organismus und das Nervensystem in einen übererregten Zustand, in welchem man von Gefühlen überflutet wird, kreisende Gedanken hat, Angst, Panik oder Wut verspürt. Dies ist deckungsgleich mit dem zuvor beschriebenen Zustand der Überaktivierung zur Flucht oder zur Verteidigung eines Angriffs. Der Effekt der Übererregung kann auch mit dem Begriff Überreizung beschrieben werden. Man sitzt wie auf einem Pulverfass und weiss kaum, wohin mit allen Eindrücken, Impulsen oder Gefühlen.
Untererregung
Nach dem evtl. all die Energie für Flucht oder Verteidigung verbraucht wurde, kann es sein, dass der Mensch im Anschluss in einen Zustand der Unteraktivierung oder Untererregung fällt, wie unsere Grafik zeigt. Es ist jedoch nicht zwangsläufig so, dass jeder Mensch zuerst übererregt ist und erst im Anschluss in die Untererregung fällt. Es kann auch sein, dass auf Stress sofort mit „freeze“ / Untererregung oder Dissoziation reagiert. Dies ist ganz klar davon abhängig, welche Erlebnisse dieser Mensch im Zusammenhang mit überwältigenden Stresssituationen oder Traumatisierungen gemacht hat. In diesem Zustand ist man wie gelähmt, eingefroren, hat keine Energie, ist unverbunden, kann nicht klar denken, fühlt vielleicht nur Taubheit, Scham oder Depression. In diesem Zustand ist der Mensch kaum mehr richtig im Körper, sondern „steht neben sich“. Dieser Zustand ist sehr oft die Folge von Trauma.
Chronischer Stress
In unserer Gesellschaft kommt es sehr häufig vor, dass Menschen Dauerstresssitationen ausgesetzt sind und ihnen die Möglichkeiten zur Regenerationsfähigkeit abhanden gekommen sind. Chronischer Stress macht krank, da der Organismus in keinem der beiden Fällen von Über- oder Untererregung Energie für regenerative Prozesse zur Verfügung hat. Der Körper ist dauerhaft in einem „Notprogramm“ und Alarmbereitschaft und reduziert in diesem Modus die parasympatischen Abläufe im Körper auf ein Minimum.
Wie gross ist dein Toleranzfenster?
Du könntest dich nun fragen, wie mein persönliches Toleranzfenster aussehen könnte. Welche Mechanismen kenne ich bei mir selbst, wenn ich mich nicht mehr wohl oder ausgeglichen fühle? Was passiert mit mir, wenn ich unter grossem Stress bin? Wie reagiere ich in der Über- oder Untererregung? Welchen Umgang hat meine Ursprungsfamilie mit Stress? Die Selbstbegegnung ist dabei eine wertvolle Methode, deine persönlichen Ursachen und Hintergründe in Bezug auf dein Toleranzfenster zu beleuchten.